Rezension von Ralf Sandfuchs
„Findet euch selbst, bevor er euch findet!“
So steht es auf der Seite der Schachtel, in der Scherbenfresser geliefert wird. Und dieser Satz fasst den Ansatz des Werks sehr gut zusammen.
Scherbenfresser ist ein Horror-Erzählspiel, das der Autor Gianni Ventrella im Eigenverlag herausgebracht hat. Im Vorfeld der Veröffentlichung von Scherbenfresser gab es hier bereits ein Interview mit Gianni Ventrella.
Nun ist das fertige Produkt erschienen und über den eigenen Webshop des Autors erhältlich.
Das Setting
Scherbenfresser ist kein Spiel, das einen festen Mythos bedient, sondern in dem bei jeder Runde ein neuer eigener Hintergrund erschaffen wird. Dieser kann entweder erwürfelt oder von den Spielern bestimmt werden.
Das Regelwerk gibt sechs verschiedene Settings mit entsprechenden Tabellen vor:
- In einer magischen Welt
- In den goldenen 20ern
- In den 90ern
- In der Gegenwart
- In der fernen Zukunft
- Wir reisen, was bedeutet, aus einem Setting an einen anderen Ort zu gelangen
Es steht den Teilnehmern frei, die Tabellen nach Belieben zu mischen oder gänzlich andere Settings und Schrecken zu verwenden.
Das Szenario für den Abend besteht am Anfang aus nicht mehr als einem Satz wie z. B. „In den goldenen 20ern, in einem Krankenhaus, griff uns ein böser Geist in Menschengestalt an.“ Dieser Satz beschreibt den Schrecken, den die Charaktere überstanden haben, an den sie sich aber nicht mehr erinnern.
Von dieser Beschreibung ausgehend entwickeln die Spieler (hier „Überlebende“ genannt) und der Spielleiter (hier „Schicksal“ genannt) das weitere Geschehen gemeinsam.
Am Anfang sammeln sie spontane Ideen, die in eine von vier Kategorien fallen:
- Räume oder Bereiche
- Aspekte des Schreckens
- Hindernisse
- Entdeckungen
Reihum kann jeder einen Einfall auf dem gemeinsamen Szenariobogen notieren, sich dabei auch von den anderen Eintragungen inspirieren lassen, bis in jeder Kategorie wenigstens drei Ideen vorhanden sind.
Vor dem Beginn des Szenarios schreibt jeder Spieler noch kurz seinen Namen und eine generelle Beschreibung auf seinen Überlebendenbogen, sowie ein spezielles Merkmal seines Charakters, an das er sich erinnert (eine Fähigkeit, eine Einstellung, ein äußerliches Merkmal usw.). Auch hierfür gibt es Tabellen als Hilfestellung.
Danach kann das Spiel beginnen.
Das System
Die Regeln von Scherbenfresser sind stark ritualisiert. Es finden vier Szenen statt, die jeweils einen bestimmten Aspekt des Szenarios beleuchten. Danach kommt es in der finalen fünften Szene zur Konfrontation mit dem „Scherbenfresser“; dies kann der zurückkehrende Schrecken vom Anfang sein oder etwas anderes, was sich daraus entwickelt hat.
Tatsächlich ist der Name des Endgegners nicht so willkürlich gewählt, wie man meinen könnte, denn im ganzen Spiel geht es darum, Scherben, also Marker, die auf dem Tisch bereit liegen, in das sogenannte Gesamtbild in der Mitte einzufügen (die Original-Scherben kann man ebenfalls im Webshop bestellen).
In jeder Szene müssen die Überlebenden zuerst ein Hindernis überwinden, das vom Schicksal vorgegeben wird. Dafür können sie ihr bekanntes Merkmal einsetzen oder sich an andere ihrer Eigenschaften erinnern. Für eine neue Erinnerung geben sie eine Scherbe vom Tisch einem anderen Teilnehmer; dieser legt dann fest, woran sich der Überlebende erinnert.
Wenn das Hindernis überwunden ist, können die Charaktere etwas Neues entdecken. Jede Szene beschäftigt sich dabei mit einem bestimmten Aspekt des Szenarios und stellt vorgegebene Fragen. Für jede dieser Fragen wird eine Scherbe als „Einsatz“ ausgelegt; der Spieler muss dann würfeln und die Anzahl der eingesetzten Scherben übertreffen. Gelingt ihm dies, geht die Szene weiter. Misslingt der Wurf jedoch, endet die Szene sofort mit einem „Monolog der Verzweiflung“.
Die Spieler können eine Szene vorzeitig abbrechen, wenn ihnen das Risiko zu groß erscheint; dann dürfen sie stattdessen „Hoffnung schöpfen“, wodurch sie zwei weitere Scherben erhalten und die Szene positiv enden lassen.
Am Ende einer Szene werden immer alle eingesetzten Scherben in das Gesamtbild eingefügt.
In der fünften Szene, der Konfrontation, treffen die Charaktere auf den Scherbenfresser. Jeder Spieler würfelt eine festgelegte Anzahl von Würfeln. Er zählt zwei davon zusammen und entfernt entsprechend viele Scherben aus der Mitte. Nachdem alle Spieler dies getan haben, muss noch wenigstens eine Scherbe vorhanden sein, um den Endgegner auszuschalten, ansonsten hat er die Charaktere besiegt.
Jeder Spieler erklärt dann noch, inwieweit sein Würfelwurf diese Ereignisse beeinflusst hat. Dabei ist es durchaus möglich, dass einige Spieler versuchen, die Geschichte zu einem bösen Ende zu bringen, während andere wirklich versuchen, den Scherbenfresser zu besiegen.
Am Ende darf jeder Überlebende noch eine Abschiedsszene ausspielen, in der seine Zukunft durch ihn, vielleicht aber auch durch auch seine Freunde oder Erben geschildert wird.
Die Regeln im Spiel
Was auf den ersten Blick stark reguliert erscheint, entpuppt sich im Spiel als bemerkenswert flexibel und hilfreich. Die Regeln bestimmen vor allem darüber, wer Teile zur laufenden Geschichte beitragen darf. Das Schicksal entscheidet, ob die Aktionen der Überlebenden gelingen oder nicht, doch im Normalfall wird alles funktionieren, was die Erzählung vorantreibt.
Einige der benutzten Begriffe wirken etwas sperrig und ungewohnt, aber nach kurzer Eingewöhnung läuft das Spiel tatsächlich wie geschmiert. Wer sich mit der Abfolge der verschiedenen Bestandteile einer Szene dennoch schwer tut, findet im Buch gelungene „Ablaufpläne“, die man bei Bedarf auch herauskopieren kann.
Durch die Möglichkeit, auf festgelegte Fragen und zuvor erarbeitete Ideen zurückzugreifen, erhalten die Spieler viel Unterstützung bei der Ausarbeitung des Szenarios, so dass am Ende eine funktionierende und häufig außergewöhnliche Geschichte entsteht, die man sich allein nicht hätte ausdenken können.
Die Produkte
Das Kernstück von Scherbenfresser ist das Regelbuch mit 166 Seiten. Auffällig ist das quadratische Format des Werks von 21×21cm, das sich auch in den enthaltenen Formularen, dem Überlebendenbogen und dem Szenariobogen, widerspiegelt.
Damit ist auch die Form der Spielebox, in der man das Regelwerk, zwei Blöcke mit Bögen, einen Satz Kunststoff-Scherben, einen Plan für ein Einsteiger-Szenario und ein Lesezeichen findet, vorgegeben. Ich finde es gut, dass endlich mal ein Erzählspiel in einer Schachtel publiziert wird, vor allem von einem Selfpublisher, und wenn man auch das Gefühl hat, sehr vorsichtig beim Öffnen sein zu müssen, damit nichts einreißt, so ist es doch schön, alle Materialien an einem Platz zu haben.
Außerdem macht die Box im Regal auch deutlich mehr her als ein Buch mit ein paar Blöcken daneben.
Fazit
Scherbenfresser ist definitiv kein Spiel für Regelfetischisten oder Leute, die ihrem Spielleiter nicht vertrauen. Denn letztendlich geht es hier weder ums Gewinnen oder Verlieren noch um irgendeine Form der Spielbalance. Es geht immer nur darum, eine gute Geschichte zu erzählen.
Aus diesem Grund sollte man sich jeweils überlegen, was in einem bestimmten Moment für die Geschichte am besten erscheint, auch wenn es für den eigenen Überlebenden oder sogar die ganze Gruppe vielleicht nicht optimal ist.
Wer sich damit nicht anfreunden kann oder wer dem freien Fabulieren ohne Regelschutzschild nicht traut, der sollte einen großen Bogen um Scherbenfresser machen.
Wer aber ein außergewöhnliches Horrorspiel mit extrem hohem Wiederspielwert sucht, der sollte im Webshop vorbeischauen und 19,00 € in das Regelwerk, am besten aber 29,00 € in das komplette „Überlebenspaket“ investieren.
Scherbenfresser ist am 1. Mai 2020 als Buch oder Box erschienen.
Disclaimer:
Wir haben ein Rezensionsexemplar der Box und eine PDF-Version von Gianni Ventrella erhalten.
Ralf Sandfuchs hat im Vorfeld der Veröffentlichung bereits als Testspieler an der Entwicklung von Scherbenfresser teilgenommen.