Rezension: Don’t Lose Your Mind
06 Dez 2009

Der Autor

Wenn ich nicht gerade spiele verunstalte ich Medien. Kommt einem zu Gute bei eigenen Rollenspielen wie Malmsturm oder Projekten wie Ratten!, Savage Worlds Gentlemens Edition, Scion, Sundered Skies und ein paar anderen. An und für sich bin ich der Erzählonkel, daher auch die große liebe zu FATE. Manchmal muss es aber auch ein Burger statt Steak sein und so wird gern und oft auch Savage Worlds oder wenn es klasisch sein soll Pathfinder und Konsorten gespielt. Ich probier gern und oft Systeme aus aber die eigentliche Leidenschaft sind die Hintergrundwelten.

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Wir bitten zu Tisch!

„Don’t Lose Your Mind“ lautet der Titel des hier vorgestellten Quellenbuchs für das kongeniale Horror-Erzählspiel „Don’t Rest Your Head“ (siehe die Rezension von gestern ). All jenen, deren Charaktere sich in Mad City nicht an diese Forderung halten wollen (oder können), sei das Werk wärmsten empfohlen.

Wie ein großes, warmes Büffet frischer Ideen liegt eine massige Anzahl von Zutaten und Rezepten für Spieler- und Spielleiterfiguren bereit – Friedrich Nietzsche und H. P. Lovecraft würden sicher von einem literarisch-psychotischen Leckerbissen sprechen.

Buchstabensuppe mit Psychopharmaka – Der Inhalt

Man findet in dem schmucken Buch, das im Übrigen mehr Seiten aufzuweisen hat als das Grundregelwerk, 26 schön ausgearbeitete Wahnsinnsvorschläge samt dazugehörender Talente für die Protagonisten. Und Wahnsinn ist in diesem Fall sprichwörtlich zu verstehen. Von A bis Z werden die verschiedensten Spielarten der Verrücktheit ausführlich vorgestellt und spielfertig dargelegt. Die Autoren beschränken sich dabei nicht nur auf eine simple alphabetische Auflistung diverser Wahnsinnsmerkmale, sondern lassen ihrer dunklen Phantasie jedes Mal aufs Neue freien Lauf. Die einzelnen Kapitel teilen sich klar in verschiedene Unterpunkte auf, was nicht nur das Lesen erleichtert, sondern auch das Nachschlagen schneller von der Hand gehen lässt.

Zu Beginn jedes Abschnittes steht eine Kurzgeschichte oder ein einführender Dialog. Schon hier und in dem kurzen Reimen der Überschriften, entsteht ordentlich Stimmung. Mal kommt dies makaber, mal obskur, mal erschreckend oder wirklich verstörend rüber; den richtigen Ton für alles Kommende setzt es allerdings immer. Die wenigen Worte erzeugen viel Atmosphäre und nicht nur erfahrene Seminar-Teilnehmer für kreatives Schreiben können sich hier eine mehr als dicke Scheibe abschneiden.

Nach den einführenden Worten stehen die eigentlichen Talentbeschreibungen, welche sich wiederum in kleinere Teile untergliedern:

„What can I do?“ ist eine Beschreibung des Talents in Spieltermini, bei der auch die einzelnen Machtstufen in Würfelwerten angegeben werden. Das kommt äußert kreativ und vielfältig daher, lässt dem Leser aber noch genügend Spiel- und Interpretationsraum. Schon das reine Lesen wird zum Vergnügen, wenn man sich die möglichen und unmöglichen Spielsituationen vorstellt, in denen das Talent zur Geltung gebracht werden kann. Doch damit alleine gab man sich bei der Zusammenstellung nicht zufrieden.

„How does it break me?“, liefert im Folgenden klar verständliche Aussagen zu „Fight“ und „Flight“, bei denen erfreulicher Weise auf eine ausgeglichene Balance geachtet wurde. Das finde ich insofern wichtig, als dass die beschriebenen Talente krasserer Natur sind, was ich ebenso auf das Powerniveau innerhalb des Spieles ummünze. Die meisten beschriebenen Befähigungen ermöglichen den Spielern Einfluss auf den Plot wie man es sonst eher selten gewohnt ist. Aus diesem Gesichtspunkt ist die „Ermahnung“ diese Fähigkeit auch rollenspielerisch umzusetzen eine gelungene Ergänzung.

In dem Absatz „How do I change?“ folgt eine Beschreibung, auf welche Weise die Fähigkeit den Charakter verändert. Ich finde es sehr schön, dass sich hier immer wieder, versteckt oder ganz offen Hinweise für den Spieler finden. Auch an dieser Stelle wird meistens erkenntlich, dass es oftmals Einschränkungen oder Beschneidungen im Umgang mit dem gewählten, mächtigen Talent gibt. Anders als beim vorangehenden Kapitel, handelt es sich hierbei jedoch um langfristigere Herangehensweisen an den gleichen Punkt. Beim Lesen sollte wirklich jedem klar werden, wie und auf welche Weise die Protagonisten nach und nach Sklaven ihres Wahns werden und ihren freien Willen verlieren.

Mit „What am I becoming?“ werden die Kapitel im Einzelnen abgerundet. Jedes Talent hat seine, ihm eigenen, spezifischen Konsequenzen. Mit der Beschreibung dessen, was der Wahn aus dem Protagonisten machen kann – ein Wesen der Alpträume, enden die Abschnitte über die Begabungen. Gerade diese kleine abschließende Bemerkung macht die einzelnen Kapitel besonders spannend, weil das Ausmaß und die Folgen der Begabungen klar werden. Spätestens beim Buchstaben D flog mir wirklich der Hut weg und es wurde noch besser… Großes Lob an den Autor, das ist wirklich perfekt gelöst.

An dieser Stelle auf die einzelnen Kapitel en Detail einzugehen, würde zukünftigen Lesern etwas vorwegnehmen. Ich hoffe, dass meine positive Resonanz auf das Buch bisher Anreiz genug sein kann. Von daher gehe ich nun etwas vertiefender auf die anderen Teile des Buches ein.

Rezepte aus der Forensik – Die Anhänge

Alle dreizehn Buchstaben bietet DLYH vertiefende Ansätze zu Madness-Talenten. Hier geht es um die Erstellung neuer Talente, sowie deren Einordnung im Kontext einer Metaebene des Charakterkonzepts. Ebenso werden Hinweise geliefert, wie man mit den Begabungen möglichst viel Spaß im Spiel haben kann und das verrückt möglichste aus ihnen herausholt „Gut“, mag man denken, „das ergibt sich doch aus der Natur der Talente von ganz allein.“ Das stimmt soweit auch, aber die hier gebotenen Ansichten und Möglichkeiten hat man dann vielleicht eben doch nicht auf dem Plan gehabt. Von daher lohnt das Lesen dieser Abschnitte sich sicherlich.

„Method is the Madness“ behandelt dabei vor Allem die Auslegungsmöglichkeiten der Talente seitens der Spieler. Wie ein derartiges Talent die ohnehin schon angegriffene Psyche des Protagonisten verändert, wird hier ebenso angesprochen wie die Frage, wo die Grenzen liegen und wie man als Spieler damit umgehen kann.

In „New Methods to Madness“ wird zum Beispiel erläutert wie ein Talent aus den einzelnen Fragen der Charaktererschaffung entstehen kann und so das Gesamtkonzept der Rolle vervollständigt. Ein anderer höchst interessanter Punkt ist die Konfliktbewältigung, bzw. das Entstehen von Konflikten innerhalb des Charakters in dessen Auseinandersetzung mit dem Wahn.

„Madness is the Method“ bildet das letzte und seitenstärkste Kapitel in DLYM. Der Autor legt an dieser Stelle den Fokus auf die Darstellung des Wahnsinns seitens der Spieler. Vor Allem hinsichtlich der Auslegung von „Fight“ und „Flight“ gibt es in diesen Seiten einige vertiefende Ansätze. Des Weiteren bieten sich hier diverse Alternativen und unterschiedliche Ansichtspunkte. So zum Beispiel was genau passieren kann, wenn sich die Charaktere allzu sehr dem Wahnsinn hingeben und überschnappen („snap“ im englischen Original). Andere Absätze behandeln die Zeitlichkeit der Abläufe innerhalb des Plots wodurch sich einige sehr interessante Möglichkeiten für Rück- und Vorblenden ergeben, die sowohl den Spielern, als auch dem Spielleiter sehr hilfreich sein dürften. Das ist noch nicht alles, doch ein paar Dinge möchte ich den Lesern selbst entdecken lassen.

Wem diese Kapitel insgesamt zu theoretisch anmuten, der sei beruhigt. Anstelle kanonischer Anweisungen wie ein „wahrer“ Charakter genau zu spielen sei, kommen die erweiternden Ansätze eher obligatorisch als verpflichtend daher, mehr als eine Ermutigung noch einen Schritt weiterzugehen, denn als Einschränkungen des Spielerinputs. Bei der Schaffung einer neuen Spielfigur kann man sich hier wie aus einer Kiste voll kaputter Spielzeuge bedienen.

In der Gesamtbetrachtung werden in den Anhängen alle wichtigen Aspekte der Protagonisten in DRYH abgehandelt, mit intelligenten Erklärungen versehen und aus spaßigen, zusätzlichen Blickwinkeln betrachtet.

Desserts in schwarz und weiß – Bildliche Gestaltung

Die Artworks in DLYH übertreffen jene im Grundregelwerk noch einmal um Längen. Sie wirken verschroben, dunkel, obskur, mysteriös, verstörend und krank und setzen so einen perfekten bildlichen Rahmen für das Geschriebene.

Auch hier haben die Autoren erneut eine Schippe draufgelegt. Jedes Talent bekommt unterschiedlich umgesetzte und verschwenderisch gelayoutete Seiten. Gerade wenn man bedenkt, dass es sich bei DLYH noch immer um ein Indie-Produkt handelt, haben die Autoren hier richtig gute Arbeit geleistet. Es gibt nicht wenige Produkte großer Verlage und bekannter Spielreihen, die keineswegs derart ausladend auf Papier gedruckt werden

Michelin-Sterne mit unmöglichen Winkeln – Fazit

Ein Wort zur Warnung. Die benutzte Sprache und Metaphern sind nichts für diejenigen Leser, die weder mit krankem Grauen, noch ekelerregenden Handlungen und vielen Kraftausdrücken umgehen können. Wie schon im Grundregelwerk wird sehr schnell klar, dass die behandelten Themen Horror und Wahnsinn sind, die aus den Tiefen der menschlichen Seele entspringen. Diese Dinge werden meist in aller Härte und ohne Beschönigungen dargelegt. Gäbe es eine FSK-Plakette für Bücher, auf das Cover von DLYM könnte eine drauf. Gut, aber wer damit nicht gerechnet hat, wird das Buch erst gar nicht in die Hand genommen habe. Alle anderen werden jedenfalls mehr als reichlich belohnt. Wie eine Sammlung an Konzepten für irre und bösartige Antihelden in einer noch ungeschriebenen Comic- oder Fernsehserie, erscheinen die dunklen Gaben der Protagonisten in DLYM.

Die Gesamtkonzepte der einzelnen Talente sind absolut top. Ohne Zweifel sind es ein paar der besten und fehlerfreisten Charakter- und Hintergrundideen, die ich seit langem gelesen habe. Das hat vor Allem zwei Gründe: als erster und wahrscheinlich auffälligster, Punkt steht die wirklich überzeugende literarische Form und an zweiter Stelle, die unbändige Kreativität mit der hier zu Werke gegangen wurde. Das ist schon derart gut, dass ich mich mehr als einmal gefragt habe, wer sich sowas eigentlich ausdenkt. Bevor ich DLYM gelesen hatte, war meine Vorstellung der Madness-Talente etwas anders. Jetzt weiß ich, was wirklich in den Köpfen der Autoren vorging und wie man sich diese Fähigkeiten vorzustellen hat. Asche auf mein Haupt, ich hatte ja keine Ahnung…

Wie schon im Grundregelwerk funktioniert die Verknüpfung von Spielmechanismen und Plot ausgezeichnet. Das hohe Niveau im Spieldesign wird hier nicht nur gehalten, sondern stellenweise noch eine Stufe höher gebracht. Der Ideenreichtum in DLYM ist groß und vor Allem sehr inspirierend; selbst wenn man keines der vorgefertigten Talente in sein Spiel einbauen möchte, hat man danach, mit ein bisschen Phantasie, selbst einige „interessante“ Vorstellungen für seine eigenen Runden.

Man hätte sich nichts Besseres als Ergänzung zum ohnehin schon tollen Grundregelwerk denken können. Tolle Arbeit, ich bin hoch zufrieden. Der nächste logische Schritt wäre, meiner Meinung nach, ein Buch zu Mad City selbst, denn der Satz: „Making the most of Mad City“ am Anfang des Buches ist irreführend, um die Stadt selbst geht es nicht, es ist mehr ein Selbsterfahrungstrip der geistig Gestörten. So ist aber ein Buch entstanden, dass allen Parteien am Spieltisch gleichermaßen zu Nutzen sein wird und dass ich, wie schon das Grundregelwerk, allen Fans des Genres uneingeschränkt ans Herz legen kann.

Im Übrigen eignet sich das Buch nicht nur für das eigentliche Setting, sondern dürfte auch in anderen Spielen, mit Horror und Wahnsinn als Thematiken, durchaus gut zur Geltung kommen.

Titel: Don’t Lose Your Mind
Art: Rollenspiel (Erzählspiel), Horror, Bizarr.
Regeln: Don’t Rest Your Head
Sprache: Englisch
Verlag: Evil Hat Productions
Publikationsjahr: 2009
Autor: Benjamin Baugh
Illustrationen: Fred Hicks, George Cotronis
Umfang: 133 Seiten
Bindung: Softcover
Preis: 19,95 €
Rezensent: Bastian Olpp
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